Hávamál

In den 164 Strophen des Gedichts Hávamál (“Sprüche des Hohen”) werden verschiedene Weisheitslehren dargestellt. Das Gedicht ist überliefert im Codex Regius der Liederedda (“Königsbuch”; Konungsbók auf Isländisch) und wird Odin in den Mund gelegt. Zwar sind die Hávamál dort als ein einziges Gedicht niedergeschrieben worden, doch kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob sie schon von Beginn an ein zusammengehöriges Werk bildeten, oder ob z.B. erst ein Schreiber bzw. der Kompilatordes Codex Regius den Stoff in dieser Weise anordnete.

Einige Philologen haben die Hávamál inhaltlich in fünf Abschnitte eingeteilt:
Gestaþáttur („Teil der Gäste“), der Regeln und Weisheiten für das tägliche Leben enthält (v. 1-77).
Dæmi Óðins („Odinsbeispiele“), Betrachtungen zur Liebe aus männlicherPerspektive (v. 78-110).
Loddfáfnismál („Loddfáfnirs Sprüche“), in denen Odin sich mit seinen Lehren an eine Person namens Loddfáfnir wendet (v. 138-145).
Rúnatal („Runenrede“), wo berichtet wird, wie Odin sein Wissen erlangte (v. 138.145).
Ljóðatal („Liederrede“), wo Odins Zauberwissen dargelegt wird (v. 146.164).

In Strophe 80 der Hávamál (“Sprüche des Hohen”) wird Folgendes über Runen gesagt:
(S. 47)                                                           

80
Das zeigt sich dann,
wenn du nach Runen fragst,
den götterentstammten,
die die hohen Götter machten
und Fimbulthul färbte,
dann macht er's am besten, wenn er schweigt.

In der “Aufzählung der Runen” (Rúnatal), also den Strophen 138-145 der Hávamál, wird
von Odins Selbstopferung und den Runen Folgendes berichtet:

(S. 61)
138
Ich weiß, dass ich hing
am windigen Baum
neun ganze Nächte,
vom Speer verwundet                       
und Odin geopfert,
selber mir selbst,
an dem Baum,                       
von dem niemand weiß,
aus welchen Wurzeln er wächst.

139
Weder Brot reichten sie mir  
noch Trinkhorn,
ich blickte nach unten;
ich nahm die Runen auf,       
nahm sie schreiend,
ich fiel wieder herab.

140
Neun mächtige Lieder          
lernt ich vom berühmten Sohn
Böthorns, Bestlas Vater,
und ich nahm einen Trunk     
des trefflichen Mets,
geschöpft aus Odrörir.

141
Da begann ich zu gedeihn     
und klug zu sein
und zu wachsen und mich wohl zu fühlen;
Wort gab mir   Wort aus dem Wort,
Werk gab mir  Werk aus dem Werk.

(S. 62)
142
Runen wirst du finden          
und deutbare Stäbe,
sehr bedeutende Stäbe,
sehr starke Stäbe,
die Fimbulthul färbte
und die hohen Ratenden schufen
und der Hropt der Ratenden ritzte.

143
Odin bei den Asen,   
aber bei den Alben Dainn,
Dwalinn bei den Zwergen,
Alswid bei den Riesen,
ich selbst ritzte einige.

144
Weißt du, wie man ritzen soll,          
weißt du, wie man raten soll?
Weißt du, wie man färben soll,         
weißt du, wie man prüfen soll?
Weißt du, wie man beten soll,          
weißt du, wie man opfern soll?
Weißt du, wie man darbringen soll,  
weißt du, wie man vernichten soll?

145
Besser ist nicht gebetet,        
als zu viel geopfert ist,
immer dient ein Geschenk für eine Gegengabe;
besser ist nicht dargebracht,  
als zu viel vernichtet ist.
So ritzte'sThund        
vor der Menschen Schicksal;
dort brach er auf,       
wohin er zurückkam.

Die Götterlieder der Älteren Edda. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Arnulf Krause, Reclam, Stuttgart 2006.